Beobachtungen, Gedanken & Ideen

Pflege und/oder Weiterentwicklung, oder was, oder wie?

Als in einer Ausgabe des DGV-Organs "Volkstanz" eine Antwort auf eine Zuschrift (Inhalt: Weiterentwicklung des deutschen Volkstanzes) unter der Überschrift "Wir sind kein Museum" erschien, ging mir durch den Kopf, dass es auf dem Gebiet noch mehr und – wie ich denke - Wichtigeres zurechtzurücken gibt. Dabei möchte ich klar stellen, dass meine Gedanken absolut nichts mit dem sogenannten Purismus (eher ein "Schienbeintreter-Begriff") zu tun haben (ich bin ja nur ein "gelernter" Volkstänzer, kein "geborener"), sondern vom Interesse an der Sache aufge-schrieben sind.

Schon die Überschrift "Wir sind kein Museum" hatte für mich einen gewissen Reiz-Charakter; ein Ausspruch, den ich vorher schon aus verschiedenen Mündern gehört hatte. Und so frage ich: Ist denn ein Museum eine so schlimme Einrichtung, dass man sich dafür schämen muss? Viele Gemeinden jeder Größe sind stolz, wenn sie ein Museum haben und weisen es als Attraktion vor. Zum Teil sind es Sammlungen recht skurriler Dinge, die ihre Zuschauer anziehen, dass sich für die Betreiber ihre Erhaltung lohnt - selbst wenn sie mehr kosten als sie einbringen. Wenn man denn will, gibt es da viel seltsamere Objekte als deutsche Volkstänze!

Aber offensichtlich fehlt es Volkstänzern an der Portion Selbstbewusstsein, die den Volkstänzern um Deutschland herum eigen ist. Manchmal fehlt auch nur ein bisschen Schlagfertigkeit (bitte über das Hirn mit dem Mund!) gegen irgendwelche "Anpflaumungen".

Was mir jedoch erheblich mehr Kopfzerbrechen bereitet, ist die verbreitet praktizierte Ansicht oder gar Überzeugung von Tänzern, Tanzleitern, Referenten und sogar Verbänden, Pflege und Weiterentwicklung unserer Tänze seien dasselbe. Pflege und Weiterentwicklung sind zwei voneinander zu trennende Aufgaben.

Pflege ist Erhaltung von etwas Erreichtem, Vorhandenem, sozusagen "Wartung". Daran sollte nicht "gedreht" oder (deutlicher) manipuliert werden; bei einem Moped z. B. wäre das "Frisieren". Zur Pflege braucht man keine Kreativität, sondern Ver-ständnis und vor allem Achtung vor der Leistung, Arbeit, Kreativität von Vorgängern.

Weiterentwicklung ist dagegen Neues aufnehmen und einbauen. Aufnehmen von eigenen Ideen mit neuen Inhalten, nicht etwa nur das Übernehmen aus einer (alten) Schachtel in eine andere (alte) Schachtel. Die "Schachtel" muss eine neue sein! Das heißt auf den Volkstanz bezogen: Neue Gedanken müssen in oder besser zu einem neuen Tanz verarbeitet werden. So wie es unsere "Altvorderen" bis hin zu den Jugendtänzern der 1920er Jahre getan haben. Sonst hätten wir heute weder eine Maike oder eine Holsteiner Dreitour und keine Polka, keinen Walzer, keine Mazurka! Und auch die "Mühle" und die "Kette" waren einmal neue Elemente. Alle unsere heutigen Tänze oder deutlicher "Tanzformen" sind doch ("nur") Weiterentwicklungen. Oft mit nur geringen Unterschieden zu einem Vorläufer, aber doch immer in etwas Neuem, auch im musikalischen Ausdruck, sich dokumentierend.

Jedoch besonders unter den jüngeren Volkstanzkreisen scheint man unter Weiter-Entwicklung etwas deutlich anderes zu verstehen. Da baut man in einem Tanz eine Figur um, weil sie einem nicht zusagt - nicht aus einer gesundheitlichen oder altersbedingten Notwendigkeit heraus, sondern aus purer Lust am Verändern (oder sollte ich saqen: Zerstören?). Stellen wir uns doch einmal vor - und das ist nicht total ein Ergebnis meiner Fantasie -: Tanzleiter A gefällt der B-Teil in der "Holsteiner Dreitour" nicht: Da muss sich doch etwas ändern lassen! Diesen veränderten Tanz sieht der Tanzleiter B, dem nun wiederum der C-Teil nicht gefällt. Da muss sich doch . (s. o.). Diese Form gefällt dem Tanzleiter C - bis auf einige Wechselfiguren im A-Teil. Also folgt er dem Beispiel seiner Vorgänger - und schon hat sich ein Tanz aus lauter Lust am Verändern "zu Tode gelebt"! Nur der Titel und (vielleicht) die Musik erinnern noch an den Ursprung. Aber mit vielen anderen gemeinsam tanzen kann man ihn dann nicht mehr.

Die Rechtfertigung der "Umschichter" (aus alt mach’ alt – s. o.), die Tänze hätten sich ja früher auch weiterentwickelt, ist Augenwischerei, denn sie benutzen sie nicht für eine Weiterentwicklung, sondern als Ausrede für ihre Veränderungen. Tänze haben sich früher wirklich weiterentwickelt, indem neue Elemente in neuen Tänzen Aufnahme fanden.(s. o.). Aber heute werden Tänze (angeblich) weiterentwickelt, jedoch nur, indem sie verändert werden – mutwillig, mit Vorsatz. Um sich selbst ein Denkmal zu setzen? Um sich von anderen abzugrenzen? Auf jeden Fall zerstören sie, was Volkstanz heute ausmacht, das große, bunte, gemeinsame Tanzen. Und deshalb sollten die, denen die Kreativität aus allen Knopflöchern bricht, gleich Nägel mit Köpfen machen und das Volkstanzvolk mit wirklich Neuem beglücken. Stellt euch einmal vor, Leonore singt im "Fidelio" die Cavatine der Rosina (für "Nicht-Klassiker": "Barbier von Sevilla" von Rossini) oder Hamlet spricht statt "sein oder nicht sein …" das berühmteste (oder berüchtigtste) Goethe-Zitat: Ist dadurch der "Fidelio" oder der "Hamlet" "weiterentwickelt" worden?

Dass Tänze früher gelegentlich tatsächlich verändert wurden, hatte einen Grund, den wir heute nicht mehr (als Ausrede) in Anspruch nehmen können: die Technik. Tänze wurden früher nur mündlich (und "ohrlich") weitergegeben; der Technik-Stand von damals erlaubte nichts anderes, schon gar nicht für eine so schlichte Ange-legenheit wie den Dorftanz. Und wer schon einmal "Stille Post" gespielt hat, weiß, wie unzuverlässig mündliche Weitergabe als Qualitätsbegriff ist. Da werden schnell Fehler zu Veränderungen. – Andere Veränderungen waren in den damaligen "gesell-schaftlichen Regeln" begründet, die es nicht zuließen, dass im Nachbardorf die-selben Tänze getanzt wurden (da könnte ja eines "unserer" Mädchen mit einem Burschen "von denen" zum Tanze gehen). Und so hatte der umherreisende Musikant die undankbare Aufgabe, die Tänze, die er kannte, "komplikationsfrei" über die be-nachbarten Dörfer zu tragen. Die Auswahl war ja nicht so groß wie heute, wo wir geradezu "global" tanzen.

Und noch ein Letztes: Da steht die Frage im Raum, ob wir so tanzen (und sprechen) sollen wie vor 50, 100 oder 200 Jahren. Was das Tanzen angeht: Das hängt doch von der Zielsetzung, vom Selbstverständnis jeder einzelnen Gruppe ab. Wer nur "zum Spaß" tanzt, wird sicher nicht "wie vor 200 Jahren" tanzen wollen. Wer Altes pflegen will, wird auch das mit Spaß tun. Und wenn man als Einzelwesen, als Gruppe oder als Verband ein wirkliches Anliegen hat, hat man auch so viel Selbst-bewußtsein, dass die Bereitschaft zum Verständnis Anderer keine entscheidende Rolle spielt.

Nach all dem: Wo dürfen wir heute "Weiterentwicklung" sehen? Da sind einmal die sogenannten "Jugendtänzer". Sie schufen auf der Grundlage der überlieferten Tänze in Tanz- und musikalischer Form neue Tänze und "erfanden" neue Schritte, Figuren und Wege (z. B. den Doppelwechselschritt, die Nutzung der Diagonalen). Im Arbeitskreis Tanz Nordheide in Buchholz bei Hamburg werden neue Tänze mit neuen Formen und Schritten (z. B. der israelische "Mayim-Schritt" im "Orient-Express") erprobt und weitergegeben. Ihre wirkliche Verbreitung wird aber (wie zu Zeiten der Jugendtänzer) zum Teil bewusst behindert. Einen weiteren Schritt zur Weiterentwicklung kann man in der Aufnahme internationaler Volkstänze ins Repertoire der Tanzkreise sehen – soweit denn das originale Fundament stimmt. Da wird sicher irgendwann einmal das eine oder andere Element in einem neuen deutschen Tanz zu sehen sein. Das läuft schon. Daneben darf aber die wirkliche Pflege nicht vernachlässigt werden. Das sind wir unseren Nachfolgern schuldig, wenn wir im Zusammenwachsen zu größeren politischen Einheiten unsere Identität bewahren wollen, wie es die anderen Völker auch tun. Auch der Texaner ist in erster Linie Texaner, dann erst Amerikaner.

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